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Neulich in einer großen Werbeagentur, die bislang ausschließlich klassische Werbung für ihre Kunden betreibt. Immer mehr ihrer Kunden verlangen auch Social-Media-Arbeit von ihr, und darum wollte sich die Agentur aufschlauen. Ich wurde als Referent zu einem Social-MediaWorkshop eingeladen, um neue Erkenntnisse an die Kollegen zu bringen. Es ging um dies und das, um diese Plattform und um jene. Und da passierte es – jemand stellte die magische Frage: »Was ist denn die beste Möglichkeit, im Online-Marketing Reichweite zu bekommen?« Die Antwort ist simpel: Anzeigen schalten. So wie in Print-Titeln, wenn man Reichweite will. Aber darum geht es hier nicht. Sondern um den schwachsinnigen Wert »Reichweite« – ein toter Gaul, der selbst im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch immer durch die Werbeindustrie geritten wird. Und das auf Kosten und zulasten der Kunden. Zeit, das Thema aufzurollen.

Besonders im Influencer Marketing ist es anscheinend wichtig, eine große Reichweite vorweisen zu können – je höher die Reichweite, desto mehr Geld gibt es für eine sogenannte »Kooperation«. (Unter Kooperation versteht man, dass jemand Geld dafür hergibt, dass ein Influencer ein Produkt in die Kamera hält. Klingt nur irgendwie netter als »Werbung«.) Und um riesige Reichweiten zu erzielen, benötigt man als Influencer massenhaft Follower.

Vor einiger Zeit habe ich schon unter dem Titel Wie kriege ich mehr Follower auf Instagram und Facebook? einen Beitrag über den Follower-Unsinn geschrieben. Das war mein erster Beitrag über bescheuerte Key Performance Indicators (KPI oder Schlüsselkennzahlen). Hier folgt der zweite zum Thema. Über diesen Influencer-Schwachsinn werde ich auch noch mal was verfassen. Doch zunächst: Reichweite, gerne auch von den ganzen Agentur-Fuzzis englisch Reach genannt

Was ist Reichweite im Online-Marketing überhaupt?

Die Frage, die sich hinter dem Begriff der Reichweite verbirgt, ist: Wie viele Menschen kommen mit unserem Medium theoretisch in Kontakt?

  • Beispiel Tageszeitung: Stellen wir uns einmal eine Tageszeitung in einer deutschen Kleinstadt vor. Von ihr werden täglich 12.000 Stück gedruckt. Davon gehen ein paar kaputt und werden entsorgt, ein paar Pflichtexemplare müssen in die Deutsche Bibliothek, ein paar wandern ins Verlags-Archiv und ein paar sind schlicht unverkäuflich. Im Endeffekt werden, sagen wir, 10.000 Exemplare an die Abonnenten ausgeliefert, am Kiosk und beim örtlichen Bäcker verkauft und als kostenlose Exemplare an irgendwen verteilt. Das, was in Summe bei all diesen Lesern landet, ist die verbreitete Auflage. Jetzt weiß der Zeitungsverlag aus Leserumfragen und aus Marktforschung, dass etwa jedes zweite Exemplar von einer weiteren Person gelesen wird, also kommen noch einmal 5.000 Leser hinzu. 10.000 an Leser verkaufte Exemplare plus 5.000 weitere Leser sind 15.000 Personen, die die Inhalte der Zeitung zur Kenntnis nehmen. Die Reichweite dieser Tageszeitung liegt somit bei 15.000 Personen.
  • Beispiel Funk & Fernsehen: Bei Funk und Fernsehen haben Sie alle schon einmal den Begriff der »Quote« gehört. Der umschreibt nichts weiter als den Marktanteil einer Sendung – und damit auch ihre Reichweite.

(Anmerkung für Fachleute: Die grobe Vereinfachung bitte ich zu entschuldigen; ich habe Anfang der 1990er eine Ausbildung zum Verlagskaufmann gemacht und weiß, dass es da noch ein paar Feinheiten gibt. Es ist aber eine hinreichend genaue Beschreibung für unseren Zweck.)

Was ist das Problem dabei?

Der Begriff der Reichweite war für die Massenmedien des letzten Jahrhunderts eine gute Kennzahl. Sie war auch die einzige verlässliche und vergleichbare Größe, mit der ein Medium argumentieren konnte. Das Verkaufsargument war dabei jedoch im Wesentlichen die Quantität des Publikums, nicht seine Qualität oder gar die des Mediums an sich. Die Quantität hat nicht einmal ausschließlich Auswirkung auf den Verkauf von Werbung, sondern zum Beispiel beim Fernsehen auch auf Sendeplätze (»Prime Time«) und ganze Produktionen. Wenn eine Sendung beim Publikum durchfällt, wird sie halt nicht weiter produziert – egal wie hochwertig sie ist. Dafür werden quantitativ erfolgreiche Produktionen so lange gemolken, bis die Cash-Cow tot umfällt – von »Lindenstraße« und »GZSZ« über »Germany’s Next Top Model« bis hin zu sexistischer Kackschei*e wie »Der Bachelor«. Alles nach dem Motto »Das Volk will Spiele? Das Volk bekommt Big Brother und das Dschungelcamp

Reichweite ist also eine Kennzahl für Massenmedien. Doch es gibt gar keine Massenmedien mehr. In meiner Kindheit gab es ARD, ZDF, das Dritte Programm (in meinem Falle den NDR) sowie zwei verrauschte DDR-Sender, deren Programm ich als »Ein Kessel Buntes«, »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«, »Das Sandmännchen« und deutsch untertitelte sowjetische Kriegsfilme in Erinnerung habe. 60 Millionen Westdeutsche und 16 Millionen Ostdeutsche (minus der Bewohner des Tals der Ahnungslosen) schauten im Wesentlichen zwei Programme, nämlich ARD und ZDF. Das sind Massenmedien.

Mit Einführung der privaten Sender begann der Verfall von Funk und Fernsehen als Massenmedium. Jetzt sind wir bei einer unglaublichen Fragmentierung der Senderlandschaft angelangt. Da gibt es anspruchsvolle Spartensender wie ZDFneo, αlpha und Phoenix, aber auch Nischensender wie Eurosport oder SIXX. Und dann gibt es auch noch Sender, die direkt den Hirnen eines Aldous Huxley oder eines Ray Bradbury entsprungen sein könnten: Astrologie- und Homeshopping-Kanäle. Ja! Ein Vollprogramm, in dem Daniel mein Karma ablösen will:

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Also, da gruselt es mich echt.

Auch mit den Tageszeitungen geht es bergab: Spätestens mit der Freigabe des World Wide Webs im Jahr 1992 begann deren Niedergang. Heute gibt es kleine journalistische Projekte, die niemals regelmäßig als klassische Tageszeitung hätten erscheinen können. Etwa das genossenschaftlich und über Mitgliedsbeiträge finanzierte und darum vollkommen werbefreie Krautreporter. Oder ausschließlich online erscheinende Regionalmagazine wie Leinetal24.de, die klassische Medienhäuser in ihrem angestammten Gebiet angreifen. Entsprechend suchen sich immer mehr Menschen als Rosinenpicker die für sie interessanten journalistischen Angebote heraus, statt einfach eine von zwei verfügbaren lokalen Tageszeitungen mit kompletter journalistischer Abdeckung von der jüngsten Naturkatastrophe in Südostasien bis zur Hauptversammlung des örtlichen Kaninchenzüchtervereins zu beziehen.

Früher™️ wurde zum Frühstück die örtliche Tageszeitung gelesen, und um 20 Uhr lief die Tagesschau. Heute liest man hier ein Häppchen und dort eines, schaut hier in einer Mediathek vorbei und dort, scannt hier die Headlines bei Twitter und taucht dort etwas tiefer in die Materie ein. Bei mir selbst geht das so: Ich habe auf Twitter verschiedene Medien von links über liberal bis konservativ abonniert, schaue dort über die Headlines des Tages und lese dann das ganze Spektrum an Berichterstattung zu einem für mich interessanten Thema, um mir so eine eigene informierte Meinung bilden zu können.

Kurz und gut: Massenmedien sind passé, weil sich die Nachfrage geändert hat – und damit das Angebot. Der Verlust an Reichweite betrifft nicht solitär die Medien. Sogar gesellschaftliche Veränderungen sind erkennbar: Zum Beispiel verlieren auch die politischen Großorganisationen immer mehr an eigener Reichweite, weil die Wähler sich lieber auf wenige Themen spezialisierten Parteien zuwenden, statt weiterhin die für alle politischen und gesellschaftlichen Belange stehenden Generalisten zu wählen. Vermutlich hängt diese Pulverisierung der Volksparteien sogar mit dem Verschwinden der Massenmedien zusammen – aber ich schweife ab, soll sich darum die Wissenschaft kümmern.

Zurück zum eigentlichen Reichweite-Problem. Reichweite ist veraltet, weil die Bezugsgröße – das Massenmedium – nicht mehr verfügbar ist. Social-Media-Plattformen sind eben keine Massenmedien, auch wenn massenhaft Menschen eine Plattform nutzen. Im Gegenteil – trotz massenhafter Nutzung finden sich die einzelnen Nutzer in engen, hochentwickelten Filterblasen oder Echokammern wieder, in denen sie sich bewegen. Diese Echokammern sind extrem spezialisiert; allgemeine  Bereiche oder Gegenströmungen wie in einer Tageszeitung, einem Vollprogramm-Sender oder einer Volkspartei gibt es kaum. Schauen Sie sich Ihren Facebook-Newsfeed an: Finden Sie dort viele Menschen mit einer anderen politischen Einstellung als Sie? Vermutlich nicht – willkommen in Ihrer eigenen, sich selbst verstärkenden Echokammer, in der Sie nur auf Gleichgesinnte treffen!

Außerhalb solcher Echokammern sind die meisten Influencer vollkommen unbekannt. Haben Sie schon mal was von einer gewissen Bianca Heinicke gehört? Die Frau hat – Stand September 2020 – 5.900.000 Abonnenten auf YouTube. Fünf Komma neun Millionen. Von einer derartigen Reichweite kann die BILD-Zeitung nur träumen. Jedes Video ihres Kanals mit dem albernen Namen BibisBeautyPalace (jetzt dürfte es bei vielen klingeln) wird mindestens eine Millionen Mal gesehen, die meisten Videos liegen im Bereich der 2 Millionen Views. Als Heinicke schwanger war, sind ihre Zuschauerzahlen förmlich explodiert und lagen bei bis zu 6 Millionen Views pro Video. Kennen Sie Gronkh? Warum eigentlich nicht? Der Typ hat immerhin 4,9 Millionen Abonnenten, doppelt so viel wie die BILD-»Zeitung« Käufer findet. Dagi Bee? 4 Millionen Abonnenten. LeFloid? Der verbirgt mittlerweile diese Zahl, aber zuletzt waren es noch über 3 Millionen. Oder schon mal was von Unge gehört? Nein? Auch der verbirgt jetzt seine Follower, die letzte bekannte Abonnenten-Zahl waren über 2,2 Millionen Abonnenten. Das ist die Einwohnerschaft von Hannover – mal vier.

Reichweite sagt nichts aus
Oben schrieb ich, dass die Frage hinter dem Begriff der Reichweite ist: »Wie viele Menschen kommen mit unserem Medium theoretisch in Kontakt?« Und mit dem Wort theoretisch eröffnet sich auch schon das Problem. Nämlich: Erreiche ich überhaupt die richtigen Menschen? Was nützt es schließlich, zwar Tausenden Menschen unsere Botschaft vorzusetzen, wenn davon kaum einer an meinem Produkt oder meiner Dienstleistung interessiert ist? Genau: Es nützt überhaupt nichts. Dennoch wird es von vielen Agenturen noch immer als das Nonplusultra an KPI angepriesen. Doch so häufig die Agentur auch Reichweite preist: Es wird nicht wahrer. Reichweite ist der kleine Fisch, der in den Erzählungen des Anglers immer größer wird. (Und Reichweite ist außerdem kein KPI. Nicht einmal eine echte Kennzahl. Sondern bloß eine Metrik. Und wenn sie als Kennzahl missbraucht wird, dann macht sie das zu einer Vanity Metric.)

Was nehmen wir denn dann als Kennzahl? Bestimmt haben Sie auch schon mal vom Tausend-Kontakt-Preis (TKP) gehört, gerne von den moderneren Dinosaurier-Medien als Cost per mille oder CPM eingehipstert. Da wird dann geguckt, was es kostet, 1.000 Kontakte herzustellen, aber auch da ist die Reichweite der zugrunde liegende Wert. Also: Schon wieder Reichweite! Bitte, bitte: Suchen Sie sich bessere Kennzahlen als Reichweite. Bitte. Und lassen Sie sich nicht von Ihrer Werbeagentur mit Reichweite ködern. Reichweite ist online wirklich so gut wie irrelevant, um Erfolg zu haben. Die benötigen wir lediglich als Hilfsgröße, um echte, relevante Werte zu ermitteln – Kennzahlen eben. Allenfalls »Reichweite innerhalb der definierten Zielgruppe« könnte mal relevant sein. Und Reichweite ist relevant, wenn Sie unbedingt nach dem Gießkannenprinzip gleichmäßig Geld ausgeben wollen. Aber dann haben Sie (oder Ihre Werbeagentur) die Vorteile von Online-Marketing nicht verstanden. Und dann bleiben Sie mit Ihrer Werbung bitte in Tageszeitungen, im Radio oder im TV.

Statt der veralteten Reichweite gibt es ausreichend gute Kennzahlen, die wir zur Ermittlung unseres Marketing-Erfolgs im Online-Bereich nutzen können: Engagementrate. Interaktionsrate. Conversion-Rate. Was auch immer – der geeignete Wert ist jeweils abhängig vom Ziel Ihrer Marketing-Maßnahme. Nur ein Wert will einfach nicht dazu passen. Und das ist: Reichweite.

Wann ist Reichweite ein sinnvoller Wert?

Natürlich ist mir bewusst, dass es in bestimmten Situationen wichtig ist, auf eine generelle Reichweite in der Bevölkerung (nicht nur in der Zielgruppe) zu setzen, nämlich insbesondere bei der Vermarktung von Produkten aus dem Segment der Fast Moving Consumer Goods (sogenannte Schnelldreher – Link zu Wikipedia). Hier sind auch relativ geringe Streuverluste zu erwarten, da irgendwie jeder Mensch mal was essen oder trinken muss, den Bedarf hat, sich zu waschen oder Kopfschmerzen zu lindern. Und hier kommen wir zum zweiten Aspekt, für den Reichweite relevant ist, nämlich der Markenbekanntheit. Eine große Reichweite führt zu großer Markenbekanntheit. Ja! Tatsächlich!

Nun ist es so: Unternehmen, die auf Reichweite setzen, machen das nicht von Ungefähr. Sie bieten typischerweise komplett austauschbare Produkte oder Dienstleistungen an. Ob Sie mit einer Luxuslimousine aus Stuttgart, aus Ingolstadt oder aus München im Stau stehen, macht denselben Unterschied wie eine Tiefkühlpizza von Hersteller X zu der von Hersteller Y. Reichweite bietet aber die Möglichkeit, Emotionen in der Markenerinnerung des Publikums zu verankern. So glauben die Leute, ein bestimmter Fahrzeughersteller baue besonders »sportliche« Autos bzw. eine Tiefkühlpizza-Marke böte ein Erlebnis »wie beim Italiener«. Quatsch ist objektiv betrachtet beides: Der Druck auf das Gaspedal eines Personenkraftwagens hat außerhalb von Straßenwagenmeisterschaften speziell dafür ausgebildeter Piloten nichts mit Sport zu tun, und tiefer als Tiefkühlpizza kann italienische Küche einfach nicht sinken. (Außer vielleicht, wenn eine Carbonara mit Sahne gemacht wird. Mit Sahne, bei allen Göttern!)

Nun ist die Frage, wie viele Unternehmen tatsächlich eine derartige Marke zur Verfügung haben, um von genereller Reichweite profitieren zu können. Wenn ein Telekommunikationsunternehmen reichweitenstarke Image-Werbung macht – okay. Aber ist ein hochspezialisierter metallverarbeitender Betrieb mit rund 50 Mitarbeitern, der seine Produkte ausschließlich an die Automobil- sowie die Luft- und Raumfahrtindustrie verkauft, eine Marke? Und wenn ja – profitiert es bei der eingegrenzten Abnehmerschaft überhaupt von Reichweite? Nein. Ganz klar nein. Darum plädiere ich sehr dafür, Reichweite als Wert wirklich sehr, sehr vorsichtig zu betrachten. Der Großteil der deutschen Wirtschaft hat – wie oben beschrieben – keinerlei Vorteil durch eine möglichst große Reichweite.